Das große Fressen

Hemmungslose Fressorgie
Hemmungslose Fressorgie

Anfang September, wenn der Limikolenzug an der deutschen Ostseeküste seinen Höhepunkt erreicht hat, treffen sich Unmengen der kleinen Strandflitzer, um eine riesige Fressorgie zu feiern. Highlight dieser hemmungslosen Veranstaltung ist alljährlich das beliebte Wett-Fressen. Es gilt dabei in zwei Minuten so viel Nahrung wie möglich zu finden und in sich hineinzustopfen.

Die Jury
Die Jury

Als Jury wurden fünf Brandseeschwalben auserwählt, die in der frühen Morgenstunde allerdings merklich damit zu kämpfen hatten, sich ihrer großen Verantwortung bewusst zu werden. Schließlich gab sich eine von ihnen einen Ruck und brachte ein energisches „Aufwachen ihr müden Krieger! Mögen die Spiele beginnen!“ hervor.

Fliegen sind keine leichte Beute
Fliegen sind keine leichte Beute

Den Anfang machte Sven der Steinwälzer – noch jung an Monaten und grün hinter den nicht vorhandenen Ohren. Sein gieriger Blick fiel auf ein paar Tangfliegen, die in der Morgensonne Energie tankten, und er stürmte sofort in ihre Richtung. Diese stoben in alle Richtungen davon bis auf ein vorwitziges Exemplar, das noch mehrmals um seinen Kopf kreiste und ihm den Saugrüssel entgegen streckte: „Ällabätsch, ällabätsch“. Völlig verwirrt ob dieser Dreistigkeit stolperte er durch die Arena. So vergingen seine zwei Minuten, ohne dass er auch nur eine einzige Kalorie zu sich genommen hatte. Enttäuscht und mit knurrendem Magen verließ er den Ort seiner Demütigung.

Zucker, Glukosesirup, Maltodextrin... lecker!
Zucker, Glukosesirup, Maltodextrin... lecker!

Nach ihm betrat Karl der Kiebitzregenpfeifer die Fress-Arena. Er entdeckte eine von Menschen achtlos entsorgte Packung Vanilleeis mit Schokolinsen an der noch beträchtliche Reste klebten. Seine Neugier gepaart mit einer ordentlichen Portion Skepsis bezüglich der unbekannten Nahrung war geweckt. Vorsichtshalber studierte er die Zutatenliste: „Zucker, Glukosesirup, Maltodextrin… Damit sollte mir der Sieg in der Kalorien-Wertung sicher sein.“ Und er labte sich an der Süßspeise. Doch sein kleiner Vogelkörper reagierte auf die Flut kurzkettiger Zucker mit dem Ausstoß von Unmengen an Adrenalin. Aufgeputscht rannte er den Strand ziellos rauf und runter und brabbelte: „Zucker, Zucker, mehr, mehr, Zucker, Zucker,…“. Die Jury fällte ein knallhartes Urteil: „Disqualifikation wegen Doping!“

Vorliebe für Muscheln
Vorliebe für Muscheln

Als nächstes stellte sich Knut der Knutt der Herausforderung. In einer Wasserlache auf dem Strand entdeckte er einen ganzen Haufen angespülte Muscheln. Der Sturm letzte Nacht hatte ihn zwar zur Rast gezwungen, entwickelte sich somit aber nachträglich zu einem Glücksfall. Dank seines Muskelmagens konnte er die Muscheln erstmal im Ganzen schlucken und das Knacken und Verdauen auf später verschieben. Als der Gong ertönte, hatte er 12 Muscheln in sich hineingestopft und ein deutlich vernehmbares Klötern begleitete ihn, als er unter starkem Magendrücken aus der Arena wankte. Er hatte ordentlich vorgelegt!

Gespanntes Publikum und eine Fliege
Gespanntes Publikum und eine Fliege

Das Publikum war begeistert. So unterhaltsam und spannend wie in diesem Jahr war der Fress-Wettbewerb schon lange nicht mehr. Und so galt seine Aufmerksamkeit einzig und allein den Kontrahenten in der Arena und dem nahenden Höhepunkt… ein Glück für die Tangfliege, die sich ungestört von ihrem kurzen aber doch anstrengenden Scharmützel mit Sven dem Steinwälzer erholen konnte.

Auftritt des Favoriten
Auftritt des Favoriten

Dann endlich betrat er die Bühne, der letztjährige Sieger und haushohe Favorit – Siggi der Sichelstrandläufer. Sein Auftritt war perfekt inszeniert. In gebührendem Abstand wurde er durch seine Adjutanten Andi und Alex den Alpenstrandläufern flankiert. Alle drei hatten ihr prächtigstes Gewand angelegt und marschierten, untermalt mit dramatischen Klängen, in die Arena ein. Das Publikum hielt den Atem an. Die Spannung steigerte sich ins Unerträgliche.

Der widerspenstige Wurm
Der widerspenstige Wurm

Endlich ertönte sein Startsignal. Augenblicklich löste sich die Spannung und Siggi begann gewohnt erfolgreich nach Würmern zu stochern. Es bahnte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Knut dem Knutt an. Wenige Sekunden vor Schluss, ertastete Siggi einen riesigen Wattwurm – „das wird der Siegerwurm“ frohlockte er innerlich und zog ihn mit aller Kraft aus dem schlammigen Boden. Den nahenden Tod vor Augen, entwickelte der Wurm eine unbändige Kraft und konnte sich tatsächlich aus Siggis Schnabel befreien. Dieser packte augenblicklich wieder zu. Doch zu spät! Nicht nur für das Leben des Wurms. Auch die Schlussglocke war ertönt, bevor der Wurm im sauren Milieu von Siggis Magen sein Leben aushauchte.

Sieges-Hüpfer
Sieges-Hüpfer

Schluss! Aus! Vorbei! Das diesjährige Wett-Fressen war Geschichte. Siggi der Sichelstrandläufer hatte verloren und schlich gebeugt aus der Arena. Knut der Knutt war der überraschende aber verdiente Sieger. Er konnte sein Glück kaum fassen und wagte trotz andauerndem Magendrücken einen Siegersprung. Dieser verkam mit dem Ballast im Bauch allerdings zu einem kläglichen Hüpfer und ein lautes Klötern erinnerte ihn daran, dass er sich langsam mal um das Verdauen der Muscheln kümmern musste.

Applaus für den Sieger
Applaus für den Sieger

Das Publikum war begeistert. Klatschend und mit stehenden Ovationen feierten sie ihren neuen Fress-Helden. Dieser Wettkampf hatte ihnen wahrlich mehr geboten als sie je erhofft hatten… einen naiven Tollpatsch, einen übermütigen Junkie, einen überraschenden aber wohlverdienten Sieger und den geschlagenen Favoriten… Vogelherz was willst Du mehr!

Gold für den Sieger
Gold für den Sieger

Als sich der Trubel etwas legte, konnte man endlich zur Siegerehrung übergehen. Das Licht wurde gedimmt und über Knut dem Sieger wurden unglaubliche Mengen Gold ausgeschüttet. Jetzt endlich wich das Adrenalin aus seinem Körper und sein Magen konnte mit dem Zerkleinern und Verdauen der Muscheln beginnen. Das Drücken aber begleitete ihn noch eine ganze Weile und so verwundert sein Gedanke kaum: „Ein doppelter Kräuterschnaps wäre mir jetzt lieber!“

PS: Auf Gleichberechtigung verzichte ich in dieser Geschichte ganz bewusst. Meine Vorstellungskraft reicht nicht aus, um mir auszumalen, dass sich weibliche Limikolen an so einer ausschweifenden Veranstaltung beteiligen.